Melissa
DR. JOHN FOGERTY WAR AM ZIEL SEINER TRÄUME.
Jahrelang hatte er dafür hart gearbeitet und viele private Dinge zurückstellen müssen. Die Enttäuschungen in seiner Jugend, das ungeliebte dogmatische katholische Elternhaus, die strenge Erziehung durch seine puritanische Mutter, die Unfähigkeit seines Vaters, gegen ihre übermächtige Dominanz aufzubegehren, all das hatte Fogerty geprägt.
Nie hatte er das Leben eines "normalen" Jugendlichen führen können. Isoliert aufgewachsen, ferngehalten von anderen Kindern, die "proletarisch" und "primitiv" waren, wie seine Mutter zu sagen pflegte, war er von Privatlehrern erzogen worden und hatte die besten Internate Englands besucht.
Der intellektuell frühreife Junge wurde der Stolz seiner Mutter, die ihn genauso formte, wie sie ihn haben wollte. Er genoß nie die "Freuden der Jugend", wie er es immer nannte, hatte mit 20 noch keinen Kontakt zu Mädchen gehabt, kannte keine Discos, Kneipen, keine Vergnügungen. Selbst bei Kino- und Theaterbesuchen oder zum Schwimmen waren seine Eltern seine einzigen Begleiter gewesen.
Ansonsten saß er über seinen Schularbeiten, und später vergrub er sich in seine wissenschaftlichen Studien.
Jetzt, mit 30, hatte er es geschafft: Er war ein angesehener Chirurg, ein glänzender Mediziner, der auch menschlich geschätzt wurde von Kollegen und Freunden.
Freunde die hatte sich der notorische Einzelgänger schwer erkämpfen müssen. In den Studienjahren bekam er zum ersten Mal seit der Schule wieder verstärkt Kontakt zu anderen Menschen. Durch seine KommilitonInnen lernte er eine Welt kennen, die ihm bis dato verschlossen gewesen war. Tom und George, seine Studien-Kollegen von Beginn an und seine engvertrautesten Freunde, schleppten ihn mit nach Soho, auf Parties, Bälle, Kunstausstellungen, ins Kino und Theater.
Sie halfen ihm, offener zu werden, machten ihn mit Leuten aus Künstlerkreisen bekannt, weckten sein Interesse für irdische Genüsse...
John blühte in diesen Jahren regelrecht auf. Und gerade als er sein Examen gemacht hatte, passierte etwas, was sein ganzes bisheriges Leben total aus der Bahn warf.
Er lernte in einem Rockschuppen im Osten Londons früher hatte er solche Discotheken immer verabscheut, heute wurde er mehr und mehr von dieser Glitzer- und Glamourwelt angezogen Melissa kennen, ein Mädchen, auf den ersten Blick ein flippiger Punk-Typ Laut, ausgelassen, temperamentvoll.
Sie schien jeden Mann im Handumdrehen bezaubern und für sich einnehmen zu können, und auf John übte sie eine geradezu animalisch-erotische Anziehungskraft aus, wie er es noch nie erlebt hatte. Sie kannte einige von Johns Freunden, und John wunderte sich, als sie an jenem Abend, als sie mit sechs Leuten in der Tanzbar waren, ausgerechnet mit ihm eine Unterhaltung begann - wo er sich doch erst einmal schüchtern und still mit in die Runde gesetzt hatte und kein Wort herausbekam, gerade weil ihn Melissas Gegenwart nervös und unsicher machte. Und aus dem anfänglichen Small-Talk wurde eine intensiv-angeregte Unterhaltung, und Melissa schaffte es schnell, John aufzutauen.
Und John stellte zu seiner Überraschung fest, daß hinter der Fassade dieser Nacht-Schwärmerin alles andere als ein oberflächliches uptown-girl steckte, sondern eine sehr sensible und hochintelligente Persönlichkeit, ein Mädchen, das tagsüber in einer Buchhandlung arbeitete eigentlich eine Notlösung, da sie keine Stellung als Lehrerin finden konnte. So unterhielten sie sich stundenlang über Literatur, Kunst und Film. Und entdeckten ihre gemeinsamen Vorlieben, während Johns Freunde staunend Und wissend lächelnd sich diskret in eine andere Ecke zurückzogen.
John kam das alles wie ein Traum vor. Dieses Mädchen, was sich ausgerechnet für ihn interessierte wie konnte ein Mensch nur so ein Doppelleben führen? Diese Ambivalenz von Intellekt und Sinnlichkeit, von rotzfrecher Abgedrehtheit und scharfem, nahezu philosophisch-analytischem Verstand zog ihn total in seinen Bann. Noch nie hatte er einen Menschen kennengelernt, der so unvoreingenommen und freisinnig lebte, ohne Schubladendenken, ohne Etikette, ohne Maßstäbe.
Melissa hatte immer jemanden wie ihn gesucht keinen Macho, keinen Kneipenhänger, keinen Disco-Typ. Und wenn sie sich in diesem Ambiente herumtrieb, dann auch aus einem gewissen Zynismus heraus: Um sich selbst zu beweisen, daß sie jeden von diesen dummen, eingebildeten, materialistischen und notgeilen Typen aufreißen konnte, wenn sie sich genauso gab wie sie. Das machte ihr Spaß und half ihr über den Frust hinweg, einfach nicht den Mann finden zu können, den sie sich wünschte. Einen völlig anderen Menschen so wie John, der sich so vollkommen mit ihr auf einer geistigen Ebene befand. Äußerlichkeiten spielten plötzlich überhaupt keine Rolle mehr er, John, der immer elegant gekleidete Gentleman und Melissa, ein Paar, wie es optisch nicht gegensätzlicher sein konnte. Er bekam es regelrecht mit der Angst, das konnte doch nicht gutgehen, was wollte sie von ihm?
Sie gingen in den nächsten Wochen fast jeden Abend zusammen aus, und als Melissa schließlich aktiv wurde und ihm versicherte, daß sie sich wirklich in ihn verliebt hatte, legte John all seine Hemmungen, Selbstzweifel und Komplexe, seine ganze Schüchternheit ab. Er war nur noch auf Melissa fixiert. Sie, die so außerhalb jeglicher wohlanerzogener bürgerlicher Normen lebte, wollte ihn, ihn ganz allein und war sogar bereit, ihn zu heiraten. Es war das vollkommene Glück! Mit ihr holte John alles nach, was er in seiner Jugend versäumt hatte. Aus dem strebsamen, aber verklemmten Eremiten war ein lebenslustiger, weltoffener junger Mann geworden, der das Leben nun in vollen Zügen genoß!
Dank Melissa die ihm Kraft und Selbstvertrauen gab, ihn immer wieder forderte, motivierte und überraschte, ihm neue Horizonte eröffnete. Das beflügelte John nicht nur privat, sondern gab ihm Energie für seine Karriere.
Nun drei Jahre nach ihrer Heirat war John ein angesehener Mann. Er arbeitete an neuen Forschungsprojekten, begann sich für Grenzwissenschaften zu interessieren. Während seiner Studienzeit hatten ihn und seine Kollegen vor allen Dingen immer wieder ein Thema fasziniert: die Erforschung von tödlichen Krankheiten wie Krebs und Aids. Und damit in Verbindung eines der ältesten Fragen der Medizin, der ureigenste Menschheitstraum: Wie der Mensch jung und gesund bleiben kann, wie er sein Leben verlängern kann.
Aus New York kamen aufsehenerregende Nachrichten von Wissenschaftlern, die neue Seren entwickelt hatten und sie an erkrankten Tieren mit Krebs- und Magendarm- Geschwüren ausprobiert hatten. Es wurde berichtet, daß Gibbonäffchen, die vom Krebs befallen waren, nach Injektionen wieder völlig gesundeten und darüber hinaus länger lebten als üblich.
Als man an gesunden Artgenossen die neuentwickelte Essenz austestete, stellte man fest, daß die Tiere tatsächlich den normalen Altersdurchschnitt übertrafen. Ein Gorillaweibchen soll sogar sein Junges um zehn Jahre überlebt haben!
John ließen diese sensationellen Forschungsergebnisse keine Ruhe. Auf mehreren Medizinerkongressen hielt er Vorträge und wagte die kühne Behauptung, daß nun erste Schritte gelungen seien, etwas zu erreichen, wovon die Menschheit seit Jahrtausenden geträumt hatte: die Unsterblichkeit!
Viele Kollegen kritisierten ihn hart, manche verlachten ihn und aus kirchlichen Kreisen wurde ihm Vermessenheit und Gotteslästerung vorgeworfen.
John ließ sich nicht entmutigen, reiste Dutzende Male nach Amerika, um sich mit Wissenschaftlern auszutauschen. Schließlich war der Zeitpunkt gekommen, an dem man die Spritze an einem krebskranken Menschen ausprobieren wollte.
John wollte bei diesem historischen Moment dabei sein und flog nach Los Angeles.
Und dann passierte das Unfaßbare...!
Melissa starb bei einer Fehlgeburt. John reiste wie paralysiert nach Hause zurück, stumm vor Entsetzen. Erst, als er Melissa am Totenbett gegenüberstand, wurde ihm die ganze schreckliche Wahrheit bewußt. Im Tode schien sie noch schöner geworden zu sein, ihr Gesicht noch anmutiger, ihr ganzer Körper schien zu glühen, über ihre Wangen hatte sich ein rötlicher Schleier gelegt, als würde sie noch leben.
John brach zusammen. Er weinte, schrie, bekam einen Tobsuchtsanfall und schloß sich tagelang in seiner Wohnung ein. Er war nicht dazu zu bewegen, an Melissas Beerdigung teilzunehmen. Alles, wofür er gelebt, gearbeitet hatte, war dahin... Melissa, die ihm alles bedeutet hatte, die seinem Leben einen Sinn gegeben hatte, war brutal und abrupt aus seinem Dasein gerissen worden.
John konnte es nicht begreifen. Seine Seele verfinsterte sich immer mehr, er zog sich allmählich von all seinen Freunden zurück, schottete sich ab, begann zu trinken. Aller Lebensmut hatte ihn verlassen. Er war nicht mehr fähig zu operieren und gab schließlich seinen Beruf auf. Von niemandem wollte er sich helfen lassen.
Keinen seiner Freunde ließ er an sich heran.
Knapp drei Monate nach Melissas Tod verließ er zum ersten Mal wieder sein Haus. Um drei Uhr morgens suchte er den Friedhof auf. Wie ein Besessener rückte er Melissas Grabstein beiseite und fing an zu graben. Keuchend legte er den schweren Eichensarg frei und hebelte den Deckel mit einer Eisenstange ab.
Melissa! Sie sah fast unverändert aus. Man hatte sie einbalsamiert. Der Tod hatte so gut wie keine Spuren hinterlassen. Sie sah aus, als ob sie schliefe... als ob das blühende Leben noch in ihr wäre...!
John wuchtete den Sarg in seinen Wagen, ganz langsam, mit all seinen Kräften. Dann hievte er eine Imitation des Sarges in die Grube und richtete alles wieder so her, wie es gewesen war. Niemand würde bemerken, daß ihr Grab leer war.
Ja, er würde nicht aufgeben! In den vergangenen Wochen hatte er alle neuen Forschungsresultate zusammengetragen. Er würde es schaffen!!! Er fuhr mit der Leiche aufs Land, wo er sich in einem alten Bauernhaus ein Labor eingerichtet hatte. Er riegelte das Gelände hermetisch ab, verbarrikadierte das Haus und begann, Melissas Leiche zu konservieren, einzufrieren...
Dann konnte die Arbeit beginnen...!
Die britischen Zeitungen danach die Zeitungen in aller Welt brachten nach und nach ausführliche Berichte um das Rätsel des vermißten prominenten Chirurgen John Fogerty. Wochenlang rissen die Schlagzeilen, die Spekulatuionen nicht ab.
Die einen vermuteten, John habe Selbstmord begangen, die anderen, er habe sich ins Ausland abgesetzt und eine neue Identität angenommen.
Schließlich verschwand Fogerty nach und nach aus den Presseschlagzeilen die Zeit läßt auch prominente Persönlichkeiten in Vergessenheit geraten. Dann erklärte man ihn für tot!
Eine Einbruchsserie in Krankenhäusern, Laboratorien, Universitätskliniken und medizinischen Instituten in England und Amerika in größeren zeitlichen Abständen, aber in schöner Regelmäßigkeit hielt die Medien mehrere Jahre lang in Atem. Ganze Laboreinrichtungen waren verschwunden, lebenswichtige Elixiere und literweise Proben von Seren, die noch in der Entwicklung waren.
Die Sonderkommission, die mit diesen unglaublichen Vorgängen betraut wurde, stand vor einem Rätsel. Es gab nicht die Spur eines Hinweises, die Einbrüche und Diebstähle waren mit einer perfekten Präzision ausgeführt worden.
Die Krebsforschung hatte durch dieses Desaster herbe Rückschläge erlitten. Viele Patienten hatten sterben müssen, weil lebensrettende Medikamente und Präparate nicht mehr ausreichend zur Verfügung standen. Die Ermittlungen führten zu nichts. Der Täter hatte alle Vorsichtsmaßnahmen getroffen. Niemand hatte auch nur je seine Silhouette zu Gesicht bekommen, es gab keine Fingerabdrücke, keine zurückgelassenen Gegenstände, nichts...
Und dann war es plötzlich vorbei: Die Serie riß ab....
Das alte Landhaus war von außen verfallen. Tiefe Risse zogen sich durch das Mauerwerk. Der Efeu wucherte in wilden Windungen bis zum Dachfirst des dreistöckigen Gebäudes. Niemand hielt das Anwesen für bewohnt. Doch die Innenwände waren mit Blei präpariert. Nicht das geringste Geräusch, nicht der kleinste Lichtstrahl drang nach draußen. Selbst die Luftklappen unter der Regenrinne waren von außen nicht zu sehen und konnten mit einem Stahlklappe versiegelt werden.
Niemand bemerkte etwas von dem unheimlichen Treiben in den Gemäuern...
John Fogerty hatte eine Essenz entwickelt, die die Verwesung von Melissas Leiche verhinderte. Während der Arbeitspausen verwahrte er Melissa in einem von ihm konstruierten Plexiglas-Sarg auf, und das künstlich geschaffene Vakuum tat sein übriges, um Melissas wunderschönen Körper zu erhalten.
John hin- und hergerissen zwischen seinen beiden Rollen als schmerzerfüllter Liebhaber und kühl-rationaler Wissenschaftler arbeitete wie ein Besessener.
Doch aus einem Fehlschlag, Melissa wieder zum Leben zu erwecken, wurden Dutzende, Hunderte...
Der Sarg wurde mehr und mehr zu einem Altar, an dem John wieder und wieder wild entschlossen schwor, nicht aufzugeben. Melissa war der Katalysator, der ihn vorwärts peitschte...!
Er schuf ein elektrisches Herz, versuchte mit Dutzenden von Substanzen die Herzmuskeln zu aktivieren, doch vergeblich... Längst hatte er sich völlig von seiner Außenwelt abgeschlossen. Selbst sein Essen stellte Er synthetisch her. Er las unentwegt und eignete sich ein Wissen an, das die Erkenntnisse von Ärzten, Biochemikern und Chirurgen aller Zeiten und Welten bei Weitem übertraf!
Er versuchte es mit allem, was möglich war: Seren, Antibiotika, künstliches Blut- Plasma und er machte dabei Entdeckungen, die ihm den Nobelpreis für Medizin eingebracht hätten. Er hätte tausend Menschenleben retten können. Doch für ihn gab es nur eins: MELISSA...!!!
Der Schlüssel zur Unsterblichkeit mußte in der Chemie des Blutes liegen! Er hatte dem Herz zuviel Aufmerksamkeit geschenkt und beschäftigte sich fortan nur noch mit dem Blutkreislauf.
Das synthetische Blutplasma war der Jungbrunnen. Die Lösung, das Altern zu verhindern, hatte er längst gefunden. Und eines Tages schaffte er es: Er fand eine Essenz zur Wiederbelebung der roten und weißen Blutkörperchen!
Es konnte keine Zweifel mehr geben: er war am Ziel!!
Es waren die längsten Stunden seines Lebens, als er beobachtete, wie sich das Blut In den Reagenzgläsern langsam belebte, wie sich ein kleiner Zylinder mit der kost- barsten Flüssigkeit der Welt langsam füllte. Dann zog er die Spritze auf und injizierte mit zitternden Händen. Nahe einem Nervenzusammenbruch wartete er...
Ein roter Schatten begann sich über Melissas Wangen, über ihre Lippen zu legen.
Und dann... kein Zweifel... sie atmete!! John blieb fast das Herz stehen...!
Ganz allmählich öffnete sie die Augen.... gähnte wie nach einem kurzen Schlummer War sie NICHT WIRKLICH nur eine Zeitlang ohnmächtig gewesen? Wie in einem tiefen Koma? Nein, für John war sie nie tot gewesen...
"Melissa", stammelte er. "Mein Liebling, Du lebst!! Komm in meine Arme, so wie es früher war...!!"
Den Ausdruck in ihren Augen, als sie ihn wahrnahm, würde John niemals mehr vergessen können. Und ihren markerschütternden Schrei, voller Ekel, Abscheu und Angst!
"Wer sind Sie??... Gehen Sie weg!!" schrie sie und floh vor ihm durch das Labor, die alte Treppe hinunter. John rannte hinter ihr her. Im zweiten Stock stürzte Melissa durch die Diele und brach durch die morschen Fußbodenbretter. Mit dem Kopf schlug sie im Keller auf und starb zum zweiten Male in einer schrecklichen, sich ausbreitenden Blutlache...
John war dem Wahnsinn nahe und hetzte brüllend und schluchzend wie ein waidwundes Tier durch das Haus, durch Räume, in denen er seit urlanger Zeit nicht mehr gewesen war...
Und als er in dem, was einmal das Schlafzimmer gewesen war, vor einem großen Wandspiegel stand, wurde ihm schlagartig bewußt, was der Grund für Melissas Erschrecken war...
John Fogerty hatte den Schlüssel zur ewigen Jugend, zur Unsterblichkeit gefunden! Aber er hatte vergessen, für sich selber zu sorgen!
Die grauenerregende, leichenblasse, ungepflegte Fratze eines ekelhaften Greises war sein eigenes Spiegelbild...!
John Fogerty, der in seiner manischen Besessenheit für Melissa Zeit und Raum vergessen hatte, wußte nicht mehr, ob vierzig oder fünfzig Jahre seit Melissas Tod vergangen waren... er wußte nur eins: er hatte sein Leben verwirkt...!
ZEIT MACHT NUR VOR DEM TEUFEL HALT...
Murphy ----- (Erscheinungsjahr muß noch erforscht werden ;))
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