Retrospektive


Wir befinden uns im Herbst des Jahres 1986 n. Chr. Ganz Mitteldeutschland ist vom "Kalten Kabel" besetzt. Ganz Mitteldeutschland? Nein! Ein von unbeugsamen KAZ-Pseudos bevölkertes Fleckchen namens Ostwestfalen hörte nicht auf, dem Eindringling Widerstand zu leisten...

Nachdem die letzte Bastion KAZ (Kleinanzeiger) mit seiner Mitteilungsrubrik 22 durch Übernahme durch den Heißen Draht zu fallen drohte, bewiesen einige unerschrockene wie mutige Pseudos aus Bielefeld (El Bolero, Baby Schimmerlos und King Lui) wahren Pioniergeist und gründeten das "PSEUDODROM", um sich ihre Freiheiten gegenüber den verhängten Anzeigen- und Anschlagsbegrenzungen zu erhalten. Die erste Ausgabe erschien nach einigen Wochen der Planung und Vorbereitungen am 18.12.1986.

Hier eine Abbildung dieses mittlerweile seltenen Dokumentes:



Tja, das ganze sieht noch recht holprig und amateurhaft aus, aber der Anfang war gemacht. Das waren eben die guten alten Zeiten, als Pseudozeitungen noch in Manufaktur mit Schreibmaschinen, Prittstifte und Scheren sowie mit klobigen Kopierern gemacht wurden (ach ja, und natürlich fässerweise Pilsbier gegen die trockene Luft, hüstel)...fortschrittliche High-Tech-Innovationen waren damals für eine Redaktion ja schon C64er, Ataris und Amigas mit ihren "enormen" Grafik- und Rechenleistungen.

Schon nach kurzer Zeit und wenigen Ausgaben herrschte ein munteres Treiben im PD, jeder konnte in diesem Pseudoparadies allen anderen bis zum Abwinken interessante oder uninteressante Mt's (Mitteilungen), seine geistigen Ergüsse oder auch die fachgerechte Entsorgung seines gedanklichen Sondermülls präsentieren. Die Gradwanderung zwischen Genie und Wahnsinn ist ja bekanntlich schon immer eine wackelige Sache gewesen. Ideenreichtum und Kreativität in allen Bereichen waren besonders für die Anfangszeit des PD's bezeichnend. Auch wenn es dort aufgrund der vielen kleinen "Kunstwerke" auf vielen Seiten oft sehr chaotisch aussah und der Inhalt auf dem ersten Blick eher einem Irrenhaus entsprungen schien. Naja...so ganz lag man manchmal mit diesem Eindruck auch nicht daneben ;-)

Das Titelbild von PD Nr. 4 bestätigt dieses auf eindrucksvolle ART und Weise. Ein "bezeichnender" Beleg für unsere damaligen extrovertierten Pseudo-"Künstler"...



Das Mona-Lisa-Gemälde in Pixeltechnik, erschaffen von Brösel-Dieter, galt als eines der besten PD-Titelbilder überhaupt. Handmade ganz ohne Heimcomputer...Wahrscheinlich sieht Brösel-Dieter auch heute noch massenhaft schwarze Pünktchen vor den Augen flimmern, wenn er an die viele Arbeit denkt...

Alle hatten jedenfalls ihren Spaß und waren mit großem Eifer bei der Sache. Es herrschte in der Tat eine richtige Aufbruchstimmung, die eben mit der Gründung der ersten "richtigen" Pseudozeitung weit und breit verbunden war. Und jeder war etwas stolz drauf, von Anfang an dabei zu sein. Der Bekanntheitsgrad dieses Amateurblattes nahm rasch zu, die Ausgaben wurden durch ganze Cliquen gereicht. Auch der Verkauf in einzelnen Szenekneipen war sehr förderlich. Die Auflage und Stärke des Heftes stieg dementsprechend rasant an, so daß sehr bald Verstärkung in Form einer Zweigstelle in Kirchlengern erforderlich wurde, welche einen Teil der redaktionellen Arbeiten wie Satz und Layout übernahm.

Sehr bald entstand auch das Bedürfnis, die Menschen in natura kennen zu lernen, die sich hinter den Pseudos verbargen. Es kannten sich zwar schon einige "Ur-Pseudos" aus KAZ-Zeiten persönlich und trafen sich auch sporadisch in Szenekneipen, aber die Gründung der berühmt-berüchtigten PD-Pseudo-Stammtische, bei denen es später mitunter über Tische und Bänke ging, war beschlossene Sache. So entstanden schon nach wenigen PD-Ausgaben Stammtische in Bielefeld (Destille), Detmold (Brösel), Bünde (Dolbi) und Lemgo (Zündkerze). Einige Stammtische, insbesondere jene im Brösel und im Dolbi, entwickelten sich zum Horror für jeden Kneipenwirt, da bei diversen Terminen die Pseudos einem Heuschreckenschwarm gleich einfielen...und sich durch Aufessen sämtlicher Vorräte auch so benahmen. Mitunter wurden über 30 dieser eigenartigen "Pseudo-Schrecken" gezählt, besonders große Schwärme zeichneten sich mit mehr als 50 dieser gefräßigen (und noch durstigeren) Exemplare aus.

Angesichts dieser schlimmen Zustände wollten einige bereits eine "Pseudozählung" durchführen, in Anlehnung an die damals umstrittene Volkszählung der Bundesregierung.



Durch die vielen nun neugeknüpften persönlichen Kontakte, aus denen sich oft sehr gute Bekanntschaften oder richtige Freundschaften entwickelten, entstand mit der Zeit trotz des aus völlig unterschiedlichen Gattungen Mensch zusammengewürfelten Haufens (die sich unter normalen Umständen aufgrund krasser gegensätzlicher Ideologien wahrscheinlich gegenseitig verprügelt hätten) eine starke Gemeinschaft mit einem ausgeprägten Zusammengehörigkeitsgefühl. Für einige wurde diese Szene sogar wichtiger als der alte Bekanntenkreis. In der PD-Szene fand man häufiger genau die Gleichgesinnten, nach denen man schon lange gesucht hatte. Das galt vor allem für diejenigen, die Freude am Schreiben, Diskutieren und intensivem Gedankenaustausch hatten. Man konnte machmal den Eindruck gewinnen, daß diese Menschen früher oder später, wie von einer unsichtbaren Macht gelenkt, den Weg zum PD fanden. Um hier ein PD-Pseudo zu zitieren: "Es war zwar nur ein relativ kurzer Lebensabschnitt, aber es war für mich persönlich eine ganz besondere Zeit mit ganz besonderen Menschen".

Abgerundet wurde damalige die PD-Szene des Jahres 1987 durch eine Reihe von zusätzlichen privaten Veranstaltungen einiger 22er, angefangen von relativ "harmlosen" Grill-, Toast-, Nudel-, Video- oder Shanghai-Abenden über feucht-fröhliche Geburtstagsfeten bis hin zu Aragons exsessiven Tortenschlachten, bei denen in der Tat die Torten regelrecht geschlachtet wurden, weil Pseudos ja bekanntlich weder gute Manieren noch ein Fünkchen Anstand besitzen. Auch die WeiFei (Weihnachtsfeier) war immer ein gelungenes Großereignis, welches so viel Zuspruch fand, das es kurzerhand mitten im Jahr am 24. Juni wiederholt wurde, natürlich sehr zur Verwunderung der "normalen" Menschheit.

Die Ansprüche der aktiven Pseudos an dieses Kommunikations-Forum waren unterschiedlicher Natur. Während die einen versuchten, durch Beiträge zu aktuellen Zeitgeschehnissen und gesellschaftlichen Themen, durch tiefsinnige lyrische Kreationen sowie anspruchsvoller Diskussionen ein hohes Niveau zu erzielen, waren andere eher Anhänger der Spaßgesellschaft, die vorwiegend dem Stammtisch-Dasein, den vielen Pseudo-Events und Partys frönten, als im PD mit schriftstellerischen Qualitäten zu glänzen. Die dementsprechend oft "flachen Laber-Mt's" im PD mit den aufgewärmtem Storys und Erlebnissen wurden daher von den ersteren naturgemäß als niveaulos, langweilig und uninteressant kritisiert. Aber auch die daraus entstehenden Diskussionen waren für die Allgemeinheit eher amüsant. Die meisten waren ohnehin der Auffassung, daß es die gesunde Mischung aus Tief- und Flachsinn machte. Global betrachtet war eine sehr gute Stimmung in der Szene vorhanden und es herrschte eitel Sonnenschein.

Ja, bis der Tag kam, an dem die erste Redaktion ihren Dienst aufgrund roter Zahlen und Zeitmangels quittierte...



Nein, es war natürlich noch nicht das Ende...

Es hatte sich aber gezeigt, daß mit einer Pseudozeitung nicht unbedingt bergeweise Geld zu verdienen war, sondern es sich bei der Herstellung eines solchen Mediums vielmehr um eine ehrenamtliche Tätigkeit handelte, die nicht nur einen Haufen Freizeit, sonderen auch Nerven kostete, da die Arbeit von den wenigsten Pseudos gewürdigt wurde. So wurde oft viel an Kleinigkeiten herumgenörgelt und vieles als selbstverständlich angenommen. Oft wurde vergessen, daß die Redax selber aus Amateuren bestand, die sich vieles autodidaktisch aneignen mußten.

Dennoch standen glücklicherweise sofort wieder kurzentschlossene Idealisten parat, die bereit waren, eben diese Freizeit zu opfern und sich ein dickes Fell anzulegen, um die schwere und verantwortungsvolle Redaktionsarbeit zu übernehmen. Aragon und BPO, die sich schon mit der Zweigstelle Kirchlengern bewährt hatten, lenkten nun im folgenden zusammen mit Opel-Fan-Club und einigen freien Mitarbeitern ab Juli 1987 die Geschicke des PDs.

Unter ihrer Federführung wurde das PD weiter verbessert und etwas professioneller aufgezogen. Dieses gilt für die einheitliche Aufmachung der Titelseite, der Einführung von vorgegebenen Spaltenbreiten für fertig eingesendete Mt's und einem insgesamt übersichtlicherem Layout im Tageszeitungsstil. Hierdurch erschien die Zeitung zwar einigen Kreativen ziemlich trist und monoton, aber bei zunächst 30 Seiten und später sogar mehr als 40 Seiten Umfang mit (teilweisen kleinkopierten!) Mt's war eine gewisse Übersicht einfach notwendig geworden, um nicht im Chaos zu versinken.

Die neue Redax betätigte sich zusätzlich als Motor für die Szene, indem sie sich besonders um die weitere Belebung der Stammtische sowie die Organisation und Durchführung vieler der vorhin bereits erwähnten Pseudoaktivitäten kümmerte. Natürlich wurden aber auch viele Veranstaltungen von den agilen Pseudos selber inszeniert und durchgeführt. Hier seien u.a. das Pfingstgrillen bei Chapeau Claque und Herby, die Toastabende bei Iron Eagle, das BBC und die V-Night erwähnt. So wurde 1987 für die 22er das Jahr der Pseudoevents.

Im Sommer 1987 ergab sich eine weitere Besonderheit. Aufgrund einer Bekanntschaft zwischen Traumweber und Jarvi entstand Kontakt zu einer Truppe junger, dynamischer Iserlohner, die sich begeistert auf das PD stürzten und fleißig mitschrieben, mitdiskutierten...und einige, trotz der Entfernung, auch kräftig in OWL mitfeierten. Umgekehrt gingen natürlich auch die Ostwestfalen gerne in Richtung Iserlohn auf Reisen, denn auch dort ging es ebenso lebhaft wie lustig zu. Schon sehr bald wurde eine eigene Zwerg...äh...Zweigstelle eingerichtet, die der Redax Entlastung bringen sollte. Die Iserlohner Pseudoszene bestand in Glanzzeiten aus schätzungsweise 20 Leuten, markante Namen waren u.a. Jarvi, Der Rote Elephant, Dr. Jekyl & Mr. Hyde, Francis Banquo, Metallica, Bacardi. Die gesamte PD-Szene erfuhr durch dieses "frische Blut" auf alle Fälle eine sehr positive Belebung.



Die Jubiläumsausgabe Nr. 25 erschien am 22. November 1987. Fast ein Jahr nach der ersten dünnen PD-Ausgabe hatte sich mittlerweile eine Pseudozeitung entwickelt, die sich gegenü ihren Vorgängern KAZ und HD keinesfalls zu verstecken brauchte, sondern diesen im Gegenteil weit überlegen war.

Der glanzvolle Hochpunkt der PD-Szene befand sich ebenfalls im Spätherbst 1987. Während dieser Phase waren etwa 120 Personen beim PD "beschäftigt" oder im direkten Umfeld zu finden. Bis etwa zum Jahreswechsel 1987/88 (der natürlich mit Aragon's Silvesterparty "The Final Countdown" gebührend begangen wurde) schien die Pseudowelt in Ordnung zu sein.

Doch dann kam Amazonia's großer Abgesang...


(Fortsetzung folgt...)









Hier wird noch weiter gebastelt, bitte etwas Geduld :-)